Relativ ratlos – was kann man „Lügenpresse“-Vorwürfen entgegensetzen?

PresseClubforum: Lügenpresse, halt die Fresse!

Am Dienstag, 14. April 2015 diskutierte das mit fünf Gästen besetzte Podium im PresseClub München das Thema „‚Lügenpresse, halt die Fresse‘ – was ist da los?“. Seit einiger Zeit stehen Medien und Journalisten unter Druck: Immer häufiger müssen sie sich in Diskussionen, im Web sowie bei anderen Gelegenheiten rechtfertigen. Wachsende oder lauter artikulierte Glaubwürdigkeitsverluste und Ressentiments sind auszumachen.

 

PresseClubforum: Lügenpresse, halt die Fresse!

Was ist dran, am Vorwurf der Lügenpresse, wie kann man solchen Vorwürfen begegnen? – Auf dem Podium: Christian Ude (Alt-OB, Jurist und gelernter Journalist), Dr. Ulrich Berls, Leiter ZDF-Landesstudio Bayern, Günther von Lojewski, ehemaliger Intendant SFB, Prof. Dr. Alexander Filipovic, Professor für Medienethik an der Hochschule für Philosophie München und Prof. Dr. Armin Nassehi, Soziologe an der LMU.
Wissenschaftsjournalistin und Presseclub-Mitglied Johanna Bayer moderierte die Veranstaltung.

Vor 70 Jahren, da sei die Öffentlichkeit noch nicht belogen und verarscht worden. Nun beginne eine Zeit, in der immer mehr Menschen aufwachten. – Dass sich der Vorwurf der Lügenpresse nicht bloß im politischen Journalismus als Kampfbegriff offenbart, bewies Johanna Bayer mit diesem aktuellen und heftigen Zitat. Es stammt aus einem Facebook-Kommentar bei der Stiftung Warentest, und bezog sich: aufs Impfen, oder aus Sicht des Kommentators die „Impf-Lüge“.

Das Beispiel macht deutlich, dass das L-Wort inzwischen flächendeckend als Shitstorm-Waffe im Meinungskampf genutzt wird. Ob hinter solchen Anwürfen eine rein paranoide oder provozierende Haltung, oder eine politische Agenda steht, ist eines der Kernprobleme in der Bewertung, ob man solche Kommentare ernstnimmt, und in die Diskussion einsteigt, die Leserinnen und Leser führen wollen. Für Medienethiker Alexander Filipovic sind solche Anwürfe einerseits Ausdruck dessen, dass Menschen durchaus registrieren und darauf reagieren, dass es strategische Kommunikation gibt, die Themen setzen kann. Wenn Menschen die Erfahrung gemacht hätten, dass nicht zwingend immer nur "die Wahrheit" ans Licht komme, stünden sie herkömmlichen Medien erst einmal kritisch gegenüber. Nichts verkehrtes. Das Problem heute, so Filipovic: Hass und Verachtung machten sich breit. „Das ist eine neue Kategorie.“ Angesichts häufiger Kommentare in dieser Richtung, musste er eingestehen: „Ich bin relativ ratlos.“ Die vom Medienwissenschaftler Bernhard Pörsen als "Publikative eigenen Rechts" bezeichnete, neue, fünfte Macht, setze sich, so Alexander Filipovic in der Diskussion, aus zwei ganz verschiedenen Teilen zusammen: Schwarmintelligenz einerseits, aber auch einem irrationalen Mob.

Für den Soziologen Armin Nassehi sind die Lügen-Anwürfe durchaus eine Folge gesellschaftlicher Veränderungen, die nicht zwingend politisch sein müssen. „Wir sind heute nicht mehr so in der Lage, komplexe Phänomene zu erklären“, so Nassehi. Das betreffe alle möglichen Themen – und es betreffe Journalistinnen, Experten, Politiker und Publikum gleichermaßen. Am Beispiel, wie man denn erklären könne, wie die Regeln des Basel 3-Abkommens zu welchem Zweck geschaffen wurden, zeigte er, wie schnell alle Beteiligten sich in der Zwickmühle wiederfinden können: Einfache Erklärung, komplizierte Wirklichkeit.

Die Zeiten, in denen es eine Handvoll TV-Programme gab, die sich tatsächlich auch als Anstalten verstanden, sind lange vorbei. Seit Jahren gibt es hierzulande etwa 70 Millionen Sender. Jeder kann, und immer mehr wollen, gehört werden. Das wissen auch die TV-Macher nur zu gut. ZDF-Mann Ulrich Berls erläuterte, dass Fact-Checking, Vier-Augen-Prinzip, die Maßgabe, sich auf zwei oder mehr Quellen berufen zu können, in seinem Haus der Standard seien. „Berichten, nicht richten“, so seine Devise. Der ehemalige SFB-Intendant Günther von Lojewski wird heute noch darauf angesprochen, dass der in West-Berlin ansässige ARD-Sender das Ende der DDR und den Mauerfall quasi eingeleitet habe. „Wir haben nur berichtet – nicht etwas selbst bewirken wollen“, so von Lojewski. Gleichwohl habe er eine Reihe persönlicher Bekannter, deren Karriere in der DDR nach der Wende beendet wurde, durchaus mit gravierenden Folgen für Einzelne. Mit dem Beispiel erinnerte er an die Verantwortung, die auch der Mittler einer Nachricht hat.

Sorge macht Ulrich Berls ihm eine gewisse De-Professionalisierung verbunden mit einfachen Vertriebswegen. Hier schimmerte, wie an anderen Stellen der Diskussion, auch die ökonomische Lage bei vielen Verlagen, Radiostationen und Online-Portalen durch: immer mehr News, immer weniger Personal, höherer Zeitdruck, mehr Verbreitungswege bei sinkenden, bestenfalls gleichbleibenden Erlösen aus Abo, Einzelverkauf und Anzeigen.

Insofern ist den Journalistinnen und Journalisten – freien wie festangestellten – durchaus bewusst, dass sie im Gegenzug noch reflektierter arbeiten müssen, wenn sie ihrem Anspruch gerecht bleiben wollen, eine gesellschaftlich wichtige Rolle einnehmen zu dürfen.

Und wenn es mit der einfachen, nichts auslassenden, einfachen Erklärung komplizierter Sachverhalte klappt, jeder mit Argumenten zu Wort kommen kann? Auch dann bleibt längst nicht alles hängen. Ulrich Berls berichtete davon, dass schon vor Jahren etwa 450.000 Worte an Information täglich in der Redaktion der ZDF-Nachrichtensendung "heute" verarbeitet wurden. Etwa 7% der Inhalte gingen über den Sender. Von diesen 7% blieben laut Medienforschung allerdings lediglich 7% beim Rezipienten hängen. Ein Problem, das sich nun potenziert habe, so Berls.

Bei der Diskussion hatte Johanna Bayer einen sechsten freien Stuhl reserviert: Für diejenigen aus dem Publikum, die zeitweise mit auf dem Podium mitdiskutieren wollten. Fritz Schmude sitzt in München für die AfD im Stadtrat. Er beteiligte sich auf diese Weise an der Diskussion. Er finde beispielsweise die Verwendung des Begriffs Flüchtlinge nur dann zutreffend, wenn es um Menschen gehe, die beispielsweise aus Kriegsgebieten geflüchtet seien. Allerdings stellten sie mit knapp einem Viertel nur einen Teil der Menschen, die nach Deutschland kommen. Hier bezog er sich auf Statistiken und Einordnungen des Bundesamtes für Migration. Auf dem Podium wurde in Ansätzen eine Diskussion darüber geführt, welche weiteren Kategorien (Asylbewerber mit und ohne Aufenthaltsstatus, Geduldete, und was die Verwaltungssprache sonst noch an Termini bereithält) es gibt, und wie man in der Berichterstattung sinnvoll einen Oberbegriff finden könne. Sicherlich eine Detail-Diskussion, und eine, die streitbar geführt werden kann. Wie der Abend zeigte, konstruktiv und zivilisiert. Und ein gutes Beispiel für die Komplexität mancher Sachverhalte. Den Spagat zwischen Allgemeinverständlichkeit und Fachsprache, zwischen Nachricht und Einordnung, wird es weiterhin geben.

Publikum und Podium waren sich in einigen Punkten sehr einig: Die Boulevardisierung im Medienbetrieb sieht man grundsätzlich als Problem. Längst nicht alle anwesenden Journalistinnen und Journalisten, einschließlich derer die im Publikum saßen, sehen es so, dass sie vermehrt mit Nutzern und Leserinnen über ihre Arbeit diskutieren müssen. Dennoch haben die Medien in den letzten Jahren auch beim Zuhören und Miteinander reden Fortschritte gemacht: Lokalredaktionen laden Leser zu Blattkritik ein; andere Medien leisten sich einen Ombudsmann; Rubriken, die in Diskussionen aufgestellte Behauptungen im Nachhinein auf den Wahrheitsgehalt abklopfen, kommen auf die Website oder ins Blatt.

Eines werden sich Medien – und da unterscheiden sich große Verlage nicht von kleinen Blogs – auch in Zukunft nicht nehmen lassen: Die Freiheit, auf ein Argument einzugehen, und zugleich nicht jedem reinen Anwurf auch noch Raum zu geben, gleichermaßen für sich in Anspruch zu nehmen.

Text: Thomas Kletschke
Fotos: Hans Schwepfinger

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